Dr. Dmitrij Lisak und Dr. Marvin Birka klären über Hintergründe sowie Anforderungen der neuen Verordnung auf und teilen ihre Einschätzungen über kommende Entwicklungen mit.
Am 26.05.2020 endet die Übergangsphase der Europäischen Medizinprodukte-Verordnung (MDR). Was das für Medizinprodukte Hersteller und Lizenzinhaber bedeutet und was hinter den neuen Richtlinien steckt, klären wir in einem Interview mit unseren Experten Dr. Dmitrij Lisak und Dr. Marvin Birka. Beide Berater der Thescon GmbH leiten internationale Implementierungsprojekte und unterstützen unsere Kunden aus der Medizinprodukte-Branche bei der Umsetzung der neuen Richtlinien.
Was sind die Hintergründe der neuen Verordnung? Gab es einen konkreten Anlass für deren Einführung?
Dr. Dmitrij Lisak: „Diverse Skandale in europäischen Ländern, z.B. mangelnde Produktsicherheit von Brustimplantaten und ungenügende Rückverfolgbarkeit übten Druck auf den Gesetzgeber aus, die Medizintechnik Regularien zu modernisieren und aktualisieren.
Als Resultat nähern sich die Anforderungen der Medizintechnik den sehr strengen Standards der Pharmaindustrie in Bezug auf Produktqualität und Patientensicherheit an.“
Gibt es ähnliche Richtlinien in anderen Ländern?
Dr. Marvin Birka: „In den USA wurde die bestehende Gesetzgebung im Code of Federal Regulations in den letzten Jahren ebenfalls verschärft, z.B. hinsichtlich der Anforderungen an die UDI in 21 CFR 830.Auch andere Teile des 21 CFR wurden angepasst, wodurch sich auch hier die Anforderungen von Medizintechnik und Pharma annähern. Es sind auch in anderen Wirtschaftsräumen Bestrebungen erkennbar, diesem Trend zu folgen.“
Ist die Unique Device Identification (UDI) Nummer mit den Serialisierungsdaten vergleichbar, die seit diesem Jahr in der Pharmabranche verpflichtend wurden?
Dr. Dmitrij Lisak: „Ähnlich wie in der Medizintechnik gibt es unterschiedlichste Anforderungen an die Serialisierung und Track & Trace, die sich deutlich von der UDI unterscheiden. In Europa zum Beispiel muss jede einzelne Verpackung serialisiert werden. Dabei werden die Serialnummern beim Lizenzinhaber generiert und müssen für jede Einzelverpackung separat generiert und gemeldet werden. Im Gegensatz dazu fordert die UDI lediglich die Kennzeichnung von Produkt, Hersteller und Charge.
Ein weiterer Unterschied ist die Umsetzung von Track & Trace in einigen Märkten, wobei das Produkt bei jeder seiner Bewegung (z.B. Verladung in den LKW oder Verladung im Warenhaus) zurückverfolgt werden muss. Generell kann man festhalten, dass jede Regulierung markt- und branchenspezifisch ist und damit einzigartige Herausforderungen mit ihnen einhergehen.“
Mit der Umsetzung der neuen Regularien sollen auch klinische Überwachungen angezogen werden. Worauf müssen sich die Hersteller vorbereiten?
Dr. Marvin Birka: „Die MDR legt Anforderungen an die sogenannte Post-Market Surveillance fest, welche durch den Hersteller geplant und aufrechterhalten werden muss. Das bedeutet u.a., dass Daten systematisch gesammelt und bewertet werden müssen und dass die klinische Bewertung auf Basis dessen ggf. aktualisiert werden muss. Bei der Implementierung dieser Prozesse und der unterstützenden IT Systeme muss ein Hauptaugenmerk auf die Datenintegrität gelegt werden, da die zugrundeliegenden Daten entscheidend sind für CAPAs bis hin zu Rückrufen. Die Ergebnisse der Post-Market Surveillance müssen darüber hinaus in den periodic safety update report einfließen. Insgesamt wurden die Anforderungen im Vergleich zu den vorherigen Regularien deutlich konkretisiert.“
Konkretisiert wurde auch der Geltungsbereich, der auf Produkte ohne medizinische Zweckbestimmungen, wie z.B. farbige Kontaktlinsen, erweitert worden ist. Werden für diese Produkte von nun an die gleichen Anforderungen herangezogen wie für „traditionelle“ Medizinprodukte?
Dr. Dmitrij Lisak: „Grundsätzlich gilt, dass auch die MDR zwischen verschiedenen Risikoklassen differenziert, d.h. für Kontaktlinsen gelten weiterhin andere Anforderungen als für Herzschrittmacher.
Letztendlich soll die MDR die Einordnung des Produktes vereinfachen und die Anforderungen an den Umgang mit dem Produkt, z.B. hinsichtlich der Dokumentation, konkretisieren. Die Auswirkungen auf das eigene Produktportfolio sollten in individuellen MDR-Projekten bewertet werden.“
Ist die Branche bereit für das Ende der Übergangsphase? In Ausnahmefällen wird eine Verlängerung der Frist von bis zu vier Jahren gewährt – wird es sich tatsächlich um eine „Ausnahmeregelung“ handeln oder werden zahlreiche derartige Anträge erwartet?
Dr. Dmitrij Lisak: „Erfahrungen mit ähnlichen Regularien zeigen, dass eventuelle Verschiebungen und Fristverlängerungen, wenn überhaupt, nur sehr kurzfristig gewährt werden.
Das eigene MDR Projekt sollte unabhängig von unklaren und nicht garantierten Verschiebungen der Deadline durch Behörden abgeschlossen werden, um die sichere Lieferkette nicht zu gefährden.“
Wie übt sich die Verschiebung der Einführung von Eudamed, also der Europäischen Datenbank für Medizinprodukte auf das Ende der Übergangszeit aus?
Dr. Marvin Birka: „Auch wenn die zentrale Verwaltung der Daten und damit auch die Registrierpflichten vorab wegfallen, so sind alle übrigen Anforderungen der MDR von der Verschiebung nicht betroffen und treten, nach heutigem Stand, wie geplant in Kraft.“
Was ist Ihre Prognose? Ist in den kommenden Jahren damit zu rechnen, dass sich die Richtlinien global betrachtet weiter verschärfen werden?
Dr. Marvin Birka: „Der grundsätzliche Trend zeigt ganz deutlich in diese Richtung. Gleichzeitig zeigt sich jetzt schon, dass die Digitalisierung ein treibender Faktor für die Medizintechnikbranche ist, wie es am Beispiel Software as a Medical Device deutlich wird. Auch neue Technologien wie KI werden in Zukunft einen noch stärkeren Einfluss auf die Branche haben. Die Unternehmen sollten sich darauf vorbereiten, dass der Gesetzgeber auch dieser Entwicklung mittelfristig Rechnung tragen wird.”